Die Erfindung eines neuen Extremismus’

Über das neue Verfassungsschutz-Beobachtungsobjekt Querdenken-Bewegung

Als Mitte September dieses Jahres der 49-jährige Mario N. im rheinland-pfälzischen Idar-Oberstein einen Mitarbeiter einer Tankstelle erschoss, mutmaßlich nur, weil dieser auf die bestehende Maskenpflicht bei Betreten des Geschäftes hingewiesen hatte, hätte das der endgültige Beleg für die zwingend notwendige Beobachtung der Querdenker-Szene durch den Verfassungsschutz (VS) sein können. Denn die Behörden hatten Mario N. nicht auf dem Schirm, obwohl ein Nachbar gegenüber Bild erklärte: „Der war bekennender Querdenker, ging auf Demos, hatte radikale Thesen – auch gegen Geimpfte“. (22.9.2021) Hätte deshalb, weil gegen die Aussage, Mario N. sei ein Querdenker-Aktivist, Äußerungen anderer Bekannter stehen, die über ihn und sein notorisch aggressives Auftreten zu berichten wussten, er sei „ein absoluter Eremit“ gewesen, der bis zu seiner Verhaftung „sein Leben vor dem Rechner verbracht“ habe. (FAZ, 23.9.2021) Über N.’s Online-Aktivitäten ist mittlerweile bekannt, dass es zwar einige wenige einschlägige Äußerungen im Messengerdienst Telegram von ihm gibt, er aber alles andere als ein Netzaktivist war. Obwohl erhebliche Zweifel bestehen, ob Mario N. überhaupt ausreichend in die Aktivitäten des Milieus eingebunden war, das man als „Querdenker“ bezeichnet, gab sich Thüringens Verfassungsschutzpräsident Stephan Kramer in Bezug auf die Gefährlichkeit des Milieus überzeugt, wie „bedauerlich“ es sei, „dass es immer erst Tote geben muss, bevor die Gefahr ernst genommen wird“. Und das, obwohl für Kramer „zur Arbeitshypothese auch immer dazugehörte, dass es am Ende vielleicht zu dem jetzt möglicherweise sehr traurigen Gipfel kommen könnte, nämlich einem Mord“, wie er gegenüber dem Deutschlandfunk erklärte. (23.9.2021)

Produkt deutscher Vergangenheitsbewältigung

Man muss wohl die Aussage des obersten Verfassungsschützers Thüringens eine Instrumentalisierung des Mordes von Idar-Oberstein nennen, die erklären hilft, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass bereits Ende April 2021 das Bundesamt für Verfassungsschutz die Einrichtung eines neuen Phänomenbereichs namens „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ verkündete, der sich insbesondere der Querdenkerszene annehmen soll. Zur Begründung seines Vorgehens teilte das Bundesamt mit: „Unsere demokratische Grundordnung sowie [!] staatliche Einrichtungen wie Parlamente und Regierende sehen sich seit Beginn der Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie vielfältigen Angriffen ausgesetzt. Demokratische Entscheidungsprozesse und die entsprechenden Institutionen von Legislative, Exekutive und Judikative werden in sicherheitsgefährdender Art und Weise delegitimiert und verächtlich gemacht. […] Legitime Proteste und Demonstrationen gegen die Corona-Politik werden dabei immer wieder, und in jüngerer Zeit zunehmend, instrumentalisiert und Eskalationen provoziert. Aber auch Anmelder und Organisatoren von Demonstrationen – zuvörderst zu nennen sind hier Protagonisten der Querdenken-Bewegung – zeigen zum Teil deutlich, dass ihre Agenda über die reine Mobilisierung zu Protesten gegen die staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen hinausgeht. […] Ein solches Vorgehen ist insgesamt geeignet und zielt darauf ab, das Vertrauen in die staatlichen Institutionen und seine Repräsentanten nachhaltig zu erschüttern. Die Zuordnung der maßgeblichen Personenzusammenschlüsse oder Einzelpersonen ist in vielen Fällen weder zu einem bestehenden Beobachtungsobjekt noch zu einem der Phänomenbereiche ohne Einschränkungen möglich.“ (verfassungsschutz.de)

Bemerkenswert ist, dass man es laut dieser Einschätzung mit einer neuen Form von Extremismus zu tun haben soll, der nicht wie sonst üblich die klare Absicht zugrundeliegt, die FdGO beseitigen zu wollen. Stattdessen ist von „Delegitimierung“ die Rede, einem Begriff, der laut Duden „Absprechen der Legitimation“ bedeutet. Auch beim VS könnte man so viel über das Milieu der Querdenker wissen, dass für es konstitutiv ist, dass seine Vertreter die Legitimation des Staates zur Ergreifung der Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie allein deshalb bestreiten, weil sie die vom Parlament abgesegnete Ausrufung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite, unter der im Notstand regiert werden kann, nicht anerkennen und deshalb versuchen, soviel Misstrauen wie möglich gegenüber staatlichen Institutionen und deren Repräsentanten zu säen. Evident ist dabei, dass sich die absolute Mehrheit der Querdenker nicht nur in penetranter Art und Weise auf das Grundgesetz beruft, sondern sich sogar zu seinen letzten aufrechten Verteidigern und Rettern erklärt – oftmals mit dem eingebildeten antifaschistischen Selbstverständnis, man befinde sich im Widerstand wie einst Sophie Scholl. Das merkwürdige antifaschistische Zur-Schau-Tragen des Verfassungspatriotismus’ entspricht dabei durchaus der von Eike Geisel konstatierten Wiedergutwerdung der Deutschen. Geisel hatte geltend gemacht, dass die Erinnerung hierzulande nur deshalb zur höchsten Form des Vergessens werden konnte, weil der Antifaschismus sich längst zum abstrakten guten deutschen Gewissen gemausert hat, das seinen Ausdruck nicht zuletzt darin fand, dass wie einst die Zonis nach Mangos und Kiwis gierten, die wiedervereinigten Deutschen ihr Bedürfnis nach Erinnerung und deren Symbole, nach Gedenkstätten und Denkmälern nur in der Art befriedigen konnten, dass sie ihnen zu den „Südfrüchten der nationalen Identität“ gerieten. (1)

Geisels Erwägungen zum Sozialcharakter des Aufarbeitungsweltmeisters, die nahelegen, dass das Milieu der Querdenker ein spezifisches Produkt deutscher Vergangenheitsbewältigung ist, dürften bei der Entscheidung des VS zur Einrichtung des neuen Bereichs „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ mit Sicherheit keine Rolle gespielt haben. Das Milieu ist nicht ins Visier des Staatsschutzes geraten, um die Verfassung zu schützen, sondern um das weitgehend für sakrosankt erklärte Durchregieren der Exekutive zu garantieren. Kritik an der Regierung, gegenüber der dem deutschen Bundestag als Legislative weitgehend nur noch die Funktion des Abnickens von Verordnungen und Ermächtigungsgesetzen zukommt, soll auf diese Weise der Ruf der Verfassungs- und Staatsfeindlichkeit angeklebt werden. Vor diesem Hintergrund sollte man es auch verstehen, wenn das Bundesamt für Verfassungsschutz zur Begründung der Überwachung der Querdenker Kritik unter den Generalverdacht der Verschwörungstheorie stellt und jegliche Ausführungen darüber unterlässt, was legitimen Protest gegen die staatliche Corona-Politik von illegitimen überhaupt unterscheiden soll: „Verschwörungstheorien sind ein nahezu durchgängig festzustellendes Phänomen und haben eine erhebliche katalysatorische Wirkung. Legitime Proteste und Demonstrationen gegen die Corona-Politik werden dabei immer wieder […] instrumentalisiert und Eskalationen provoziert“. (a.a.O., Hvh. S.P.)

Zu klären wäre in diesem Zusammenhang, ob es sich nicht um einen Etikettenschwindel und gar ein Ablenkungsmanöver des VS handelt, bei dem die „Zuordnung der maßgeblichen Personenzusammenschlüsse oder Einzelpersonen […] zu einem bestehenden Beobachtungsobjekt“ beziehungsweise Phänomenbereich vor allem deshalb nicht erfolgt, weil durch die Erfindung einer neuen Form von Extremismus zum einen nicht der Gedanke aufkommen soll, dass die seit Ausrufung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite de facto statthabende Außerkraftsetzung der Gewaltenteilung von Exekutive und Legislative womöglich selbst eine Form der Delegitimierung des Staates und seiner Verfassung darstellt. Zum anderen ist bei der Benennung des neuen Extremismusphänomens nicht zufällig von einer möglichen Staatsgefährdung gar nicht erst die Rede, weil in Wahrheit mit den Querdenkern eine Szene ins Visier des VS geraten ist, die vornehmlich nicht die allgemeine verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates betreibt, sondern in seiner absoluten Mehrzahl eine Delegitimierung der bestehenden exekutiven Gewalt im Sinn hat. Alle andere als zufällig heißt es dann auch in der Erklärung des Bundesamtes, das Ziel der Querdenkerbewegung sei es, „das Vertrauen in die staatlichen Institutionen und seine Repräsentanten nachhaltig zu erschüttern“. Deutlich wird hier, dass der Extremismus-Vorwurf mit der Herbeiführung einer Vertrauenskrise begründet wird. Als wäre der Grund für das schwindende Vertrauen nicht (auch) in der weitgehend willkürlichen Corona-Gesetzgebung eines Staates zu suchen, dessen Vertreter permanent Schuldige innerhalb der Bevölkerung ausmachen, um vom eigenen Versagen abzulenken, wird eine Verkehrung von Ursache (Corona-Maßnahmen) und Wirkung (Querdenkerszene) vorgenommen.

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