Weitgehend unbemerkt von der linksalternativ gleichgeschalteten Einheitsmeinung spielt sich am Río de la Plata derzeit ein Drama ab: Argentinien – „Exportweltmeister“ des 19. Jahrhunderts und einst das reichste Land der Erde – besinnt sich auf jene Werte, die dem Land und der Nation vor hundert Jahren einen phänomenalen Wohlstand beschert haben. Gerade im Vergleich zu den desolaten Zuständen in Germany kann man sich über dieses Wunder nur wundern.
Seit dem Erdrutschsieg am 10. Dezember sind keine zwei Wochen vergangen und die Regierung des Präsidenten Javier Milei hat mit der Verwirklichung ihrer wichtigsten politischen Ziele begonnen. Unter dem Banner „No hay Plata“ („Es gibt kein Geld“) und „Déficit Zero“ hat die argentinische Regierung einer Reihe von Maßnahmen beschlossen, um den weiteren Verfall des Landes schnellstmöglich zu bremsen und umzukehren.
Rund zwanzig Jahre nach dem fulminanten Default des Jahres 2001/2002 („Argentinazo“) und nach zwei Jahrzehnten weitgehend keynesianischer Wohlfahrtsstaatlichkeit (unterbrochen von einem unglücklichen vierjährigen Gastspiel Mauricio Macris in der Rolle des Staatspräsidenten) steht der Kippelkandidat unter den Schwellenländer schlimmer da als vor der Krise anfangs des neuen Jahrtausends. In Schlaglichtern:
- Fast die Hälfte des Landes lebt unterhalb der Armutsgrenze.
- Nur die Hälfte der Beschäftigten ist in legalen Arbeitsverhältnissen tätig.
- Zwei Drittel der Kinder unter 14 Jahren haben nicht genug zu essen.
- Die schulischen Leistungen in einem der ersten vollalphabetisierten Länder der Welt liegen weit unter dem PISA-Durchschnitt.
- Rentner müssen mit weniger als 100 Dollar Mindestrente auskommen – pro Monat.
- Die öffentliche Sicherheitslage ist desaströs, Raubmorde sind auch bei Bagatellbeträgen an der Tagesordnung.
Soziale Gerechtigkeit, mon amour
Angesichts des aktuellen Bildes fiel es der linksperonistischen Regierung von Alberto Fernández (einer Handpuppe von Christina Kirchner) schwer, eine erfolgreiche Bilanz ihrer linksalternativen Politik zu ziehen. Insbesondere das haltlose Gelddrucken („Plan Platita“) während des rund zweijährigen Corona-Lockdowns scheint dem Land den Rest gegeben zu haben: Das Haushaltsdefizit liegt bei rund 5 % des Inlandsprodukts und wurde bis zuletzt vorwiegend über die Notenpresse finanziert. Dementsprechend lag die Inflation am Ende des Amtszeit Fernández bei knapp 200 % p.a.
Dass die offizielle Politik krachend gescheitert ist, galt zuletzt sogar innerhalb des Peronismus und der Gewerkschaftsbewegung als gesichertes Wissen – die Frage war allein, wer die Zeche bezahlen sollte. Das linksalternative Establishment in Medien und Staat riegelte sich rhetorisch in jeder Richtung gegen anstehende Forderungen ab. Sergio Massa – Kandidat der ehemaligen Regierungspartei – versuchte, die erforderlichen Einnahmeerhöhungen des Staates durch die Erhöhung von Steuern und Abgaben als „Reformen“ darzustellen und gab sich betont wirtschaftsfreundlich (was ihm der linke Flügel bis heute nicht verzeiht), um das seit zwölf Jahren rezessive Land zurück auf den Wachstumskurs zu führen – ohne Erfolg.
Bei den Stichwahlen zwischen Massa und Milei entschied sich eine deutliche Mehrheit von 44 zu 56 % für den Herausforderer, einen politischen Neuling, aber auch einen durchaus arrivierten Wirtschaftsprofessor (mit einer höchstwahrscheinlich akademisch belastbaren Doktorarbeit). Die Niederlage des Peronismus war so vollständig, dass die Partei um ein Haar ihre wichtigste Machtbasis – die Provinz von Buenos Aires (15,6 Millionen Einwohner) – verloren hätte.
Zu den wichtigsten intellektuellen Leitsternen der Milei-Regierung zählen – abgehsehen von dem in Europa zu Unrecht ignorierten Alberto Benegas Lynch (Sohn) – die österreichische Wirtschaftsschule von Mises und Hayek sowie deren Chicagoer Ableger. Dementsprechend monetaristisch und ultra-orthodox fiel das erste Reformpaket aus: Die Staatsausgaben werden um 3 % des Inlandsproduktes gesenkt, nur 2 % sollen aus der Verteuerung von Ausfuhr-Zöllen und der Streichung von Subventionen für Energie und Transport gewonnen werden.
Das Primärdefizit soll bereits Ende 2024 auf Null fallen. Bleibt das Problem der Vereinheitlichung des Wechselkurses: Aktuell gibt es noch immer rund 50 unterschiedliche Preise für den US-Dollar. Eine freie Konvertibilität zählt zu den wichtigsten Zielen der inzwischen angeblich unabhängigen Zentralbank. Eine Lösung für die Staatsanleihen Leliq und Lebaq soll dem Markt überlassen bleiben – Zinsen weit unterhalb der Inflation haben diese Anlageformen bereits jeder Attraktivität beraubt. Eine Lawinengefahr scheint hier deshalb vorerst gebannt.
Die Reaktion auf das erste Maßnahmenpaket der neuen Regierung fiel überraschend positiv aus: Aktien argentinischer Konzerne (YPF, Techint, Bunge, u.ä.) machten Kurssprünge bis zu 40 %. Sogar die zuvor als junk bonds gehandelten argentinischen Staatsanleihen drehten in ein zweistelliges Plus. Die Kehrseite der Medaille: Die Dezember-Inflation klettert auf knapp 30 % – im Monat. Auch die nächsten Wochen werden die Portemonnaies einer bereits hart gebeutelten Nation weiter strapazieren – sowie deren Nerven. Was dem neuen Amtsinhaber zu denken geben sollte.
Dieses war der erste Streich
Beflügelt von einem aus ihrer Sicht gelungenen Start legte die Regierung in der zweiten Woche mit weiteren Maßnahmen nach. Hervorzuheben sind Änderungen beim Demonstrationsrecht sowie eine rund 300 Einzelgesetze betreffende Notstandsverfügung (DNU) des Präsidenten, die in den nächsten Wochen vom Kongress bestätigt werden sollte, wenn die neue Regierung nicht extrem anfällig gegenüber der Rechtsprechung insbesondere des Obersten Gerichtshofs sein will.
Die Reform des Demonstrationsrechts zielt darauf ab, die seit rund 20 Jahren politisierten Konflikte zwischen den verfassungsmäßigen Grundrechten Meinungsfreiheit und Verkehrsfreiheit abzubauen. Insbesondere soll es den sogenannten „sozialen“ Bewegungen der Piqueteros erschwert werden, Millionenstädte durch Straßenblockaden lahm zu legen. Zuletzt waren drei bis vier solcher Blockaden an der Tagesordnung – täglich.
Wie man immer schon wusste, sind diese „sozialen“ Bewegungen ein Millionen-Business, das seine Chefs unermesslich reich gemacht hat. Denn staatliche Sozialleistungen werden teilweise nicht direkt an die Bedürftigen ausgezahlt, sondern an deren Vorarbeiter aus der Piquetero-Bewegung. Meist landen 20 % der ausgezahlten Beträge in den Taschen dieser Punteros (Mittelsmänner oder -frauen). Im Gegenzug werden von den tatsächlich Bedürftigen dafür vier Stunden gemeinnützige Arbeit pro Tag verlangt – die bislang auch durch die Teilnahme an Straßenblockaden (Piquetes) abgegolten werden konnten. Die Steuerzahlenden mussten also die Straßenblockaden, die ihnen einen funktionierenden Alltag unmöglich machten, zu allem Überfluss auch noch selbst bezahlen.
Wie sich nun herausgestellt hat, haben die Punteros der Piquetero-Bewegung ihre Bedürftigen nicht nur für ihre politischen Ziele ausgenutzt, sondern viele Punteros haben sie mit höchst aggressiven Methoden dazu gezwungen, an Straßenblockaden teilzunehmen. Eine eigens geschaltete Telefonhotline der neuen Regierung verzeichnete nach nicht einmal zwei Tagen rund 10.000 Anrufe von Leistungsbeziehenden, die darüber berichteten, von den Punteros der „sozialen“ Bewegungen regelrecht erpresst worden zu sein, an den Demonstrationen teilzunehmen.
Die Methoden reichten dabei von Ausschluss von der Armenspeisung über die Verhängung von Geldstrafen bis hin zur Drohung, Bedürftige aus dem Leistungsbezug zu streichen. Zur Unterstützung solcher und ähnlicher Methoden ging die argentinische Linke anschließend mit der Piquetero-Bewegung „Polo Obrero“ auf die Straße – zu einer vermeintlichen Großdemo, zu der statt der angekündigten 50.000 nicht mal 3.000 Teilnehmer erschienen.
Weil die neue Regierung das soeben beschriebene Geschäftsmodell der „sozialen“ Bewegungen inzwischen lahmgelegt hat, indem sie die Sozialhilfe nur noch direkt an die Bedürftigen auszahlt und nicht mehr an deren Mittelsmänner und -frauen.
Alles Notstand, oder was?
Parallel dazu hat die Milei-Regierung ein umfangreiches Paket von weitreichenden Notstandsverfügungen veröffentlicht. Diese bestehen weitgehend aus Maßnahmen zur wirtschaftlichen Flexibilisierung, dem Abbau teilweise absurder Bürokratie (im Bereich KFZ-Zulassung), aber auch aus Maßnahmen, die einflussreiche Lobby-Gruppen wie die peronistische Gewerkschaftsbewegung (CGT) betreffen. Bei Letzteren geht es vor allem um eine Reform der Krankenversicherung, durch die die Gewerkschaften um einen erheblichen Teil ihrer Einnahmen gebracht werden.
Angesichts der Notstandsverfügungen sind jedoch nicht nur Konflikte mit dem noch immer sehr mächtigen Syndikalismus vorprogrammiert, sondern auch mit dem Parlament und der Justiz. Insbesondere letztere vertritt eine eng begrenzte Definition von Notstand, die sich auf äußere Einwirkungen wie Naturkatastrophen und Kriegshandlungen beschränkt. Hier scheint insbesondere dem Obersten Gericht unersichtlich, welche Art von Notstand die plötzliche, vor allem aber außerparlamentarische Reform von 300 Einzelgesetzen erzwingen könnte.
Was das Parlament betrifft, können nur beide Kammern des Kongresses gemeinsam etwaige Notstandsverfügungen der Regierung stoppen – was allerdings ein Novum wäre. Aus der Zeit der linken Amtsvorgänger sind über 500 ähnliche Verfügungen überliefert, die nicht vom Kongress widerrufen wurden. Allerdings sind die Mehrheitsverhältnisse im argentinischen Unterhaus so gelagert, dass die Regierung auf Unterstützung der Zentrumsparteien PRO und UCR angewiesen ist, um ihre politischen Vorhaben in geltendes Recht zu verwandeln. Im Oberhaus – dem Senat – verlief eine erste Probeabstimmung unter Leitung der Vizepräsidentin Victoria Villaruel für die Regierung überraschend positiv, zumal sich tatsächlich eine geschäftsfähige Mehrheit aus allen nicht-peronistischen Senatorinnen und Senatoren bilden ließ.
Es bleibt somit abzuwarten, welche Aussicht auf Erfolg der von der Milei-Regierung angestoßene liberal-libertäre Reformkurs hat und wie viel von den bislang entwickelten politischen PS auf der Straße ankommen. Sollte von den sich bislang abzeichnenden Maßnahmen mehr als die Hälfte mit parlamentarischen Mitteln – und ohne dass der soziale Frieden zu sehr leidet – verwirklichen lassen, hätte das Land vielleicht wirklich eine realistische Aussicht auf eine weitreichende Trendwende, nach der es mittel- bis langfristig wieder zu den erfolgreichen Wirtschaftsnationen der Welt.
Das kleine Wunder des Javier Milei (haolam.de) / Ramiro Fulano