WINA: Sie haben Ende 2015 die NGO DERAD gegründet, die heute im Bereich der Extremismusprävention in Justizanstalten tätig ist. Wie viele Inhaftierte betreuen Sie derzeit; weswegen wurden diese Menschen verurteilt; und warum braucht es für sie Deradikalisierungsarbeit?
Moussa Al-Hassan Diaw: Wir betreuen verschiedene Gruppen, einerseits jene, die einschlägig wegen Terrorismus angeklagt oder bestraft sind. Die zweite Gruppe sind die, die wir abklären, um zu schauen, ob eine Radikalisierung stattgefunden hat, weil da ein Verdacht besteht. Und die dritte Gruppe sind jene, mit denen man präventiv spricht. Insgesamt sind das derzeit mehr als 60 Personen.
Weswegen sind Menschen in Haft, die nicht wegen Extremismus verurteilt wurden, inzwischen aber diesbezüglich auffällig wurden?
♦ Das sind Täter, die beispielsweise wegen Raub oder Körperverletzung oder Diebstahl in Haft sind.
Wem fallen diese Menschen dann als möglich radikalisiert auf, wenn sie im Gefängnis sind?
♦ Sie fallen den Gefängniswärtern, also der Justizwache auf oder aber auch den Fachdiensten, das sind Sozialarbeiter oder Psychologen. Es sind auch die Vollzugsleitung, der Fachdienst soziale Arbeit und der psychologische Dienst, welche die Inhaftierten bewerten. Die Meinung von DERAD kann mit einfließen, ist jedoch nicht allein ausschlaggebend. Das stand im Endbericht zum Anschlag vom 2. November leider falsch drinnen. Wir bestimmen nicht allein, ob jemand als radikal einzustufen ist. Wir legen übrigens auch nicht den Koran aus, wie es ebenso fälschlicherweise in diesem Bericht steht, sondern wir machen pädagogische Arbeit, politische Bildung, dekonstruieren extremistische Ideologien und Feindbilder, vermitteln Geschichte und Menschenrechte.
Wie fallen Inhaftierte als potenziell extremistisch auf? Was macht sie auffällig?
♦ Dinge, die sie sagen, wenn einer sich etwa auf einmal politisch eindeutig äußert. Oder wenn jemand sein Verhalten ändert oder zum Islam konvertiert und mit bestimmten Personen zusammen ist, die bereits auffällig sind. Ein Verdacht kann sich aber auch auf Basis von Zeichnungen, illegal geführten Handys, Speichersticks, die man findet, Notizen, die sie machen, oder Meldungen von Mitinsassen ergeben.
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Welche Sprachen sind da wichtig?
♦ Eigentlich ist Deutsch die wichtigste Sprache. Aber es kommt hin und wieder vor, dass man mit einem Inhaftierten nur auf Tschetschenisch oder Russisch reden kann. Außerdem geht es oft darum, die Feinheiten zu verstehen – was bedeutet dieser Spruch, wer ist der Imam, auf den sich der Betreffende bezieht. Das kann dann nur jemand, der selbst aus der tschetschenischen Community kommt. Wichtig ist allerdings, dass alle unsere Mitarbeiter ideologiefrei sind und keiner Fraktion in einer solchen Gemeinschaft angehört. Sie dürfen auch in keine andere Richtung extremistisch ticken, das fängt beim legalistischen Islamismus an; es können aber auch keine Ultranationalisten oder Linksextremen sein. Man darf selbst dem extremen Spektrum nicht angehören oder damit sympathisieren, weil sich sonst im Gespräch auch das Bild von innen trübt. Wir betreuen ja nicht nur Islamisten, sondern auch Täter aus dem linksextremen Spektrum, Rechtsextreme, Staatsverweigerer. Es muss da ein möglichst neutraler Zugang möglich sein.
Wie gefährlich schätzen Sie das Potenzial von islamistisch motivierten Extremisten ein?
♦ Als sehr gefährlich, weil sie bereit sind, aus ihrer Ideologie heraus, die eine Handlungsanleitung ist, bestimmte Gruppen von Menschen umzubringen und das teilweise auch ungezielt, also weiche Ziele. Es ist für sie legitim, weil die Ideologie ihnen lehrt, dass das etwas ist, was nicht frevelhaft, nicht sündig ist, nicht böse, nichts Schlechtes ist, sondern etwas, das du sogar tun musst, weil es ein legitimer Kampf sei, das zu tun.
Welche Gruppen dürfen oder sollen aus dieser Sicht heraus umgebracht werden?
♦ Im Grunde alle, die nicht zur eigenen Gruppen gehören. In dieser Ideologie gibt es zwei Feindesgruppen: der nahe Feind, der oft als gefährlicher angesehen wird, also alle Muslime, die anders denken; und der ferne, der äußere Feind, die Nichtmuslime. Und in der Feindbild-Ideologie arbeiten der nahe und der ferne Feind zusammen, sie haben sich quasi verschworen gegen die wahre Gemeinschaft der echten Muslime.
Das heißt aber, jeder ist potenziell ein Feind?
♦ Am Ende ist jeder ein Feind. Da sind dann selbst andere extremistische Gruppen aus Sicht des Islamischen Staates vom Islam abgefallen, und die hassen sie besonders, weil sie ihnen in Wirklichkeit sehr nahe sind.
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Man muss allerdings kein Extremist sein, um antisemitische Einstellungen zu haben – dieses Phänomen zeigt sich nicht nur an den Rändern, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft. Wie verbreitet ist Antisemitismus in der islamischen Gesellschaft in Österreich?
♦ Ich würde unterstellen, dass es eine Rolle spielt, aus welchen Herkunftsländern die Personen kommen und wie sie weltanschaulich getunt sind. In Ländern des arabischen Raums plus der Türkei – dazu gab es eine entsprechende Studie, die das untermauert – sind antisemitische Einstellungen größer. Je weiter man geografisch wegkommt, desto mehr ändert sich das, es sei denn, es gibt bestimmte ideologische Gruppen, die diesbezüglich Einfluss nehmen. Wenn ich im westafrikanischen Raum bin, kümmert die Menschen dort das Thema Israel so gut wie gar nicht; das Gleiche gilt für andere Länder. Ich bin mir sicher, dass, wenn man mit einem Uiguren spricht, sein Feindbild die Chinesen sind. Wenn ich an die türkische Community denke, egal, ob sie religiös oder nicht religiös sind, politisch links oder rechts gerichtet: Eine gewisse Form von Antiamerikanismus plus antijüdische und antiisraelische Einstellung ist meist festzustellen. Diese Erzählungen sickern in die Gesellschaft ein und werden zum Mainstream.
Was hat sich in den letzten Jahren unter dem türkischen Präsidenten Recep Erdoğan in Bezug auf Antisemitismus verändert, und was gibt es da für eine Rückkopplung in die türkische Gemeinde in Österreich?
♦ Die Religionsbehörden waren sozialdemokratisch, laizistisch ausgerichtet. Seitdem Erdoğan an der Macht ist, hat er sie stärker an die Kandare genommen; dadurch ist die weltanschauliche Diskrepanz, die es zu Milli Görüs gegeben hat, quasi mehr oder weniger verschwunden. Daher werden manche Feindbilder als akzeptabel gesehen, auch wenn es subtil oder nicht klar und offen formuliert wird.
Und zu diesen Feindbildern zählen dann auch Juden?
♦ Feindbilder sind wieder Amerika, der Westen, meistens heißt es dann die Zionisten. Sie sagen dann, wir meinen nicht die Juden, sondern die Zionisten, aber sie meinen in Wirklichkeit sehr wohl die Juden. Ich habe aber keine Studie, mit der ich das belegen könnte, das sind einfach nur meine subjektiven, persönlichen Eindrücke. Personen, die nicht vom berühmten Stammtisch kommen, die sonst durchaus reflektiert sind, gebildet sind, die persönlich empfindlich sind, wenn es um Ausgrenzung, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Rassismus geht, rutschen dann in abwertende Darstellungen ab. Es zeigt sich hier oft, dass das Bewusstsein nur dann da ist, wenn es um die eigene Gruppe geht.
Antimuslimischer Rassismus ist ihnen sehr nahe, sie merken aber nicht, wenn sie andere diskriminieren. Die Sensibilitäten verschwinden, die Empathie verschwindet, wenn man selbst nicht mehr betroffen ist. Was oft zu hören ist: Ich differenziere, ich bin kein Antisemit, mir geht es nur um die Zionisten und um Israel. Besonders tricky wird es, wenn diese Leute aus taktischen Gründen mit jüdischen Organisationen und Personen zusammenarbeiten, die aber selbst aus einer Organisation oder einem Netzwerk kommen, in dem zumindest antiisraelische Einstellungen Teil der Gruppenideologie sind. Sie wissen aber, dass ihnen das nicht guttut, und versuchen, darüber hinwegzutäuschen.
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Besonders virulent wird das Thema, wenn es eine Krise oder kriegerische Zustände wie zuletzt zwischen der Hamas in Gaza und Israel gibt. Warum gibt es unter hier lebenden Muslimen so eine starke Identifikation mit Palästinensern?
♦ Das ist genau das, was wir als DERAD in Diskussionen immer einfließen lassen. Warum gibt es nicht die gleich starke Identifikation zum Beispiel mit den Uiguren in China. Es gibt schon auch Solidarität, aber nicht in dieser Emotionalität. Genau das Gleiche mit den Rohingya in Myanmar. Ich behaupte, ein Grund liegt darin, dass es politisch-ideologisch getunt ist durch verschiedene Organisationen, bei denen das Ideologem, das Feindbild Jude explizit da ist, auch in den Schriften. Das würde für die Muslimbruderschaft gelten. Al Kaida hat Ende der 1990er-Jahre gesagt, sie seien gegen die Zionisten. Es gibt einfach einen ideologischen Bezugspunkt.
Sie haben hier die Muslimbruderschaft angesprochen. Gibt es diese offiziell in Österreich, und wie einflussreich ist sie?
♦ Auf europäischer Ebene wird die Ideologie von der Föderation Islamischer Organisationen in Europa (FIOE) vertreten. Offiziell gibt es die Muslimbruderschaft in Österreich nicht, mit Ausnahme eines Vereins, dessen Vertreter das in einem Interview 2013 selbst sagte, das nun aber bestreitet. Offiziell gibt es sie also nicht, aber de facto existiert sie, und sich mit ihren Vertretern anzulegen, kann existenzvernichtend sein. Daher kann ich hier auch nicht mehr dazu sagen.
Was aber auffällig ist: Meiner Beobachtung nach gibt es einen taktischen Wechsel bei der Muslimbruderschaft, die jetzt beim Themenkomplex Antirassismus, Postkolonialismus, Antikolonialismus eher mit der politischen Linken kooperiert. Das bildet sich in Initiativen und politischen Projekten ab. Man merkt auch eine Verschiebung bei linken Gruppen, wenn es darum geht, wie sie die Muslimbruderschaft darstellen und wahrnehmen und zu bestimmten außenpolitischen Konflikten Stellung beziehen.
Wie ernst ist Antisemitismus von muslimischer Seite zu nehmen – wie gefährlich schätzen Sie ihn ein?
♦ Ich persönlich halte jede menschenfeindliche Einstellung für gefährlich. Selbst, wenn es nur der Witz ist oder das Gesprochene und es noch keine gewalttätigen Handlungen gibt, kann aus dem Ressentiment, dem Vorurteil, dem Stigma, der Vermeidung der Menschen irgendwann auch ausgelebte Aggression werden – oder eben, dass man, wenn man Menschen abwertet, diese Dehumanisierungsstrategie dazu führt, dass man sagt, „wenn dem etwas passiert, ist er selbst schuld“. Das ist ja auch so in der Gewalteskalation beziehungsweise bei der Radikalisierung, die dann wie auf einem Fließband rollt. Das heißt, die Gewaltlegimitation als solche ist schon der Weg, um selbst einmal Gewalt auszuüben. Erst kam im Nationalsozialismus die Dehumanisierung, und durch die Propaganda hat man die Dehumanisierung so weit betrieben, dass der Punkt kam, an dem Leute gesagt haben, „die haben es eh verdient“. Insofern halte ich jede Form von antisemitischer Einstellung oder anderer gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit für problematisch und gefährlich.
Moussa Al-Hassan Diaw lebt seit dem Alter von drei Jahren in Österreich und studierte die Fächer Geschichte, Englisch und Religionspädagogik auf Lehramt. Derzeit arbeitet er an seiner Dissertation an der Universität Osnabrück zum Thema „Muslimischer Zelotismus und politischer Salafismus“ und ist Mitarbeiter an der Universität Münster. 2015 gründete der Islamismusforscher die NGO „DERAD – Extremismusprävention und Demokratie“. Er setzt sich seit vielen Jahren für den jüdisch-muslimischen Dialog (EMJD) ein und lebt mit seiner Familie in Wien.
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