Wenn man zurzeit etwas über den algerisch-französischen Schriftsteller Boualem Sansal schreibt, kann der Artikel ungewollt zum Nachruf geraten. Der 80-jährige Sansal, der seit dem 16. November 2024 vom algerischen Regime gefangen gehalten wird und Ende März 2025 zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, ist schwer krebskrank. Er wird von einem Hochsicherheitsgefängnis nahe Algier und einer Gefängnisabteilung des größten Krankenhauses in der Stadt hin und her verlegt. Zwischen Strahlenbehandlung und Isolation, ohne Rechtsvertretung und weitgehend ohne Besuche – Sansals Angehörige werden ebenfalls bedrängt –, wehrte sich Sansal ganz auf sich allein gestellt, nachdem sein französisch-algerischer Anwalt François Zimeray kein Visum für Algerien bekommen hatte. Agenten des Inlandsgeheimdienstes hatten Sansal im Gefängniskrankenhaus aufgesucht und verlangt, er solle einen Anwalt wählen, der kein Jude sei. Aus Protest gegen diese antisemitische Maßnahme trat Sansal in den Hungerstreik, den er aber wieder abbrechen musste, weil er auf die medizinische Behandlung angewiesen ist.
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Linke deutsche Medien schwiegen angesichts der Gefangennahme Sansals durch das algerische Regime nicht nur, sie verweigerten die Solidarität und denunzierten Sansal. Allen voran war es diesmal die Jungle World, die verhindern wollte, mit einem eingebildeten Rechten, den man zuvor hofiert hatte, in einen Topf geworfen zu werden. Die linke Identität ist ihr zum heiligen Gral geworden, dem die Wahrheit pflichtbewusst geopfert wird. So weit in der Entsolidarisierung von Sansal wie das linksradikale Wochenblatt unter Führung der Politkommissare Bernd Beier und Jörn Schulz ging kein anderes Medium außer der Jungen Welt. Selbstverständlich hat dies auch damit zu tun, dass in beiden Zeitungen der unvermeidliche deutsche Frankreich-Experte Bernard Schmid schreibt. Entscheidend aber war, dass die Abgrenzung zu dem, was als rechts, rechtsextrem oder faschistisch begriffen wird, längst zum inhaltslosen Hauptwiderspruch geworden ist. Der Vorwurf, der Sansal gemacht wird, besteht darin, einer missliebigen Publikation – dem französischen Youtube-Kanal Frontières – ein Interview gegeben zu haben, in welchem er zum einen die Westsahara-Frage im Sinne Marokkos beantwortete und zum anderen die unbequeme Wahrheit aussprach, dass der Westen Algeriens vor der französischen Kolonisierung eigentlich zu Marokko gehört habe. Frontières („Grenzen“) ist eine aus einem Youtube-Kanal entstandene rechte Zeitschrift und lädt sehr unterschiedliche Zeitgenossen zu Interviews ein. Von der Gesinnung der Interviewer auf die der Interviewten zu schließen, ist jedenfalls ein gewagtes Unterfangen. Sansal wird unterstellt, sich der Rechten – was immer das auch sein soll – angenähert zu haben. Der Begriff des Rechten meint wohl Faschisten, Nazis, Trump etc. Was konkret gemeint ist wird nicht benannt. Ein Konservativer? Ein Freund des Faschismus? Ein wirklicher Nazi? – rechts zu sein ist zum beliebigen Anwurf wie Sexist oder TERF (trans exclusionist radical feminist) geworden.
Sansal ist ein Linker, der seinen Bezugspunkt verloren hat, indem er die Wahrheit ausspricht, dass die Linke keine Freundin der Freiheit (mehr) ist. Er fordert, die Moscheen in Frankreich zu schließen, weil die Prediger aus Algerien die Exklusion und den Terror predigen. Er macht darauf aufmerksam, dass der Islam der Gegenwart keine Religion, sondern eine Ideologie ist, die Macht fordert. Der politischen Klasse wirft er vor, nicht zu verstehen, wie dieser Machtanspruch funktioniert und wie der Bürgerkrieg vorbereitet wird. In Frankreich werde die gleiche Strategie angewendet wie im Algerien der 1990er Jahren, warnt Sansal. Im Appeasement mit dem Islam sieht er den Untergang der Republik voraus und verweist in diesem Zusammenhang auf die algerische Situation: Es sei eben nicht notwendig gewesen, der islamistischen Bewegung nachzugeben, der blutige Bürgerkrieg hätte verhindert werden können, wenn die Machthaber bereit gewesen wären, eine wirkliche Nationwerdung zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang hätte man die Frage der Kabylei, des berberischen Siedlungsgebietes an den Ufern des Mittelmeers zwischen Marokko und Tunesien, und die Frage der Staatsgrenzen zwischen Marokko und Algerien zum Thema machen müssen. Sansal kommt deshalb immer wieder auf die Frage der Nationwerdung und auf die der Grenzen des Nationalstaats in ihrer Beziehung zu seiner Geschichte zurück, weil er versteht, dass der Islamismus nur dort an Macht und Einfluss gewinnt, wo die Bildung von Nationen unmöglich ist oder verhindert wird. Das Wort Nation hat nicht von ungefähr etwas mit der Geburt zu tun – und der Islamismus ist heute überall eine Bewegung von wütenden Ungeborenen. In dem Interview, das der Vorwand für seine Festnahme war, sagt Sansal, dass es während des Algerienkrieges ein Abkommen zwischen dem FLN und dem marokkanischen Königshaus über die Gebiete im Westen Algeriens gab, die seit dem 15. Jahrhundert zum Königreich Marokko gehörten. Im Austausch für die marokkanische Unterstützung Algeriens im Unabhängigkeitskrieg war vereinbart worden, dass nach dem Sieg des FLN diese Gebiete an Marokko zurückgegeben würden. Nach dem Abzug der Franzosen 1962 wurden diese Vereinbarungen nicht eingehalten. Tatsächlich waren alle algerischen Machthaber nach 1962 marokkanischer Geburt – als würde man seinen marokkanischen Vater nicht kennen, wurde eben das Sansal zum Vorwurf gemacht.
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Eine Woche später, am 5.12.2024, durfte dann Bernard Schmid nachlegen: „Mittlerweile hat sich Sansal politisch nach rechts bewegt. Dem eher wirtschaftsliberalen Magazin Atlantico sagte er jüngst, die Linke – er differenzierte nicht näher zwischen Strömungen oder Parteien – wolle Frankreich mit Migranten überschwemmen, ‚weil sie die Franzosen verachtet und die Weißen mit blauen Augen ausrotten will‘. ‚Die Linke‘ wolle ‚einen Strafsozialismus einführen und das Volk aushungern‘.“ (Jungle World, 49/2024) Tatsächlich hatte Sansal etwas ausführlicher geantwortet und eine solche Entstellung des Zitats hätten die Politkommissare von der Chefredaktion oder vom Lektorat vor wenigen Jahren noch nicht durchgehen lassen: Auf die Frage, warum es der Linken so schwer falle, auf Ereignisse wie den Pogrom von Amsterdam am 7.11.2024 mit 25 zum Teil schwer Verletzten angemessen zu reagieren, antwortete Sansal: „Die Linke hat keine Schwierigkeiten, sie ist ganz eins mit sich, sie hat sich für eine Seite entschieden und macht daraus keinen Hehl, das muss man anerkennen. Sie will Frankreich zerstören, sie verachtet die Franzosen und will die blauäugigen Weißen ausrotten (6), die Grenzen für Migranten aus dem globalen Süden öffnen, die am Tag X [der Machtübernahme der Linken, Anm. TK u. JN] ihr Kanonenfutter sein werden, sie unterstützt die Hamas und versteht die Hisbollah, sie liebt die Diktatoren des Globalen Südens, sie verehrt den Islam und versteht den Islamismus und seine Auswüchse, und sie hasst Katholiken und Juden, sie will einen Strafsozialismus einführen und das Volk hungern lassen, um es zu disziplinieren, usw. usw.“ (Atlantico, 17.11.2024) (7) Das ist ein anderer Ton, als der in der Schmid’schen Verkürzung: schärfer, deutlicher und klarer – und: Sansal hat sich bewegt, er spricht die Sprache derer, die ihm ein Forum geben, aber es gibt keinen Hinweis darauf, dass er dadurch sich „politisch nach rechts bewegt“ hat – es sei denn, die Werte der Laizität, der Republik, der Gleichberechtigung und der freien Rede zu vertreten, wäre heute rechts. Das ist denn auch, was Schmid und Beier insinuieren.
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