Den Alternativbewegten ging es darum, „Netze zu bauen, vielfältige Kanäle zu ziehen, ein Milieu zu entwickeln, Nischen und Ritzen zu besetzen, den Staat zu unterlaufen, zu zerbröckeln, brüchig zu machen“. (zit. nach Kasper 2017: 215) Was sich liest wie die praktische Verwirklichung der Philosophie Gilles Deleuze’ zielte nicht zufällig auf den Staat als den Inbegriff des bürgerlich (und damit selbst partikularen) Allgemeinen. Im organisierten Kapitalismus der fordistischen Industriegesellschaft prägte jener nämlich die Wirtschaft insofern, als er qua Strukturförderung, Arbeits- und Tarifrecht sowie Steuer-, Sozial- und Beschäftigungspolitik den allgemeinen Rahmen absteckte, innerhalb dessen sich private Unternehmen bewegen konnten. Er begründete damit eine allgemeine Sphäre der öffentlichen Auseinandersetzung über die Gestaltung des Gemeinwesens, in welcher eine Einigung über die Verteilung der wachsenden Wohlstandsgewinne hergestellt werden konnte. Dass mit der Ablehnung der fordistischen Arbeitsgesellschaft die linksradikal angestrebte Staatserosion einherging, war im Zuge des Aufstiegs des „desorganisierten Kapitalismus“ (Claus Offe) also nur konsequent und folgerichtig. Wie alle Ideologen betrachten auch Progressivisten des 21. Jahrhunderts die Welt nicht so, wie sie ist, sondern so, wie sie es gerne hätten. Schon allein aus diesem Grunde ist es ihnen unmöglich, die eigene historische Rolle zu reflektieren, die sie innerhalb des seit den mittleren 1970er Jahren vonstattengehenden gesellschaftlichen Disruptionsprozesses bis heute einnehmen: die Rolle des ideologischen Katalysators. Als avantgardistische, sprich: antizipierend-konformistische Vorkämpfer sind sie zugleich die objektiven Nachkömmlinge der Alternativbewegung, die sich nichts weniger als die Zerstörung der letzten Reste bürgerlicher Zivilisation auf die Fahnen geschrieben hatte. Wie jede Ideologie einer sich im historisch-sozialen Aufstieg befindenden Gesellschaftsgruppe war und ist auch der postindustrielle Linksliberalismus beziehungsweise Linksradikalismus – letzterer als dessen brutalisierte Form – bloßer Ausdruck einer auf Herrschaft zielenden Klasse. Allem Gefasel von „Inklusivität“ zum Hohn hat diese Klasse mittlerweile nämlich „ein historisch nahezu unübertroffenes Niveau an Exklusivität erlangt. Lebenslanges Lernen, der Konsum schier unerschöpflicher Mengen von Wissens- und Kulturgütern, Kodeverfeinerungen und die permanente Optimierung aller Lebensvollzüge ist der Preis, den die Privilegierten für ihre Zugehörigkeit zu entrichten haben. Weniger begünstigte Milieus, die vor dem Hintergrund dieser avancierten Standards als weniger kultiviert, weniger gesundheitsbewusst und weniger selbstdiszipliniert erscheinen, werden von den Mitgliedern des postindustriellen Bürgertums intuitiv aussortiert und wirkungsvoll daran gehindert, in die Machtzentren aufzuschließen.“ (Koppetsch 2019a: 225; Hvb. im Orig.) Dennoch verstehen sich Linksliberalismus wie Linksradikalismus – wiederum anderen historischen Aufstiegsideologien entsprechend – als universelles Menschheitsbeglückungsprojekt. Die Feinderklärung gegen alles, was auch nur im Entferntesten an Normalität, Gleichförmigkeit und Fremdbestimmung erinnert, zeigt aber eben, dass sie dies keineswegs sind. Diejenigen, die der Soziologe David Riesmann als „außengeleitete Charaktere“ beschrieb (Riesmann 1956) und die Linksradikale als alt, weiß, männlich und heterosexuell – kurz: als „normal“ – imaginieren und personifizieren, sind heutzutage nicht nur allüberall der Lächerlichkeit preisgegeben, sondern dienen längst als reaktionäres Projektionsobjekt, das den antirassistischen, antisexistischen, antikapitalistischen etc. Hass auf sich zieht. Analog zu Horkheimers Ausführungen in Die Juden und Europa (3), in denen er den Verlust der ökonomischen Bedeutung der Zirkulationssphäre als historisch-materielles Konstituens des Antisemitismus bestimmte, kann das zeitgemäße, geradezu manisch wirkende Ressentiment gegen den „alten weißen Mann“ – sprich: den fordistischen Normalarbeitnehmer des Westens – als ideologische Verdoppelung von realhistorischen und -ökonomischen Tendenzen dechiffriert werden: Auch die „ideologische Praxis“ des postindustriellen linksradikalen Bewusstseins treibt dahin, „Objekte des sozialen Unrechts im Geist noch einmal zu erniedrigen, um dem Unterschied den Anstrich der Vernunft zu geben.“ (Horkheimer 1939: 325 f.). Der Linksradikalismus mag im Gegensatz zum historischen Antisemitismus bisher nur in Einzelfällen „praktisch“ geworden sein – die ideologische Form der Feindbestimmung trägt identische Züge.
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Denn tatsächlich handelt es sich auch beim antiweißen Rassenhass, der natürlich ebenso Ausdruck von Selbsthass sein kann, um eine unbewusste Personifizierung von gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen, die mitsamt ihren Vertretern ohnehin im Niedergang begriffen sind. Die Verlierer der globalwirtschaftlichen Entwicklung der beiden Jahrzehnte von 1988 bis 2008 – der Hochphase der sogenannten Globalisierung – sind nämlich weniger die Einwohner der Entwicklungs- und Schwellenländer als hauptsächlich die unteren und mittleren Bevölkerungsschichten der westlichen OECD-Staaten.
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Dabei nahm die radikalisierte Spielart des Linksliberalismus, der von diesem ohnehin nur noch mit Mühe unterscheidbare Linksradikalismus, im Transformationsprozess von der spät- in die nachbürgerliche Gesellschaft die Rolle der ideologischen Vorhut ein. Weit vom Selbstanspruch entfernt, in irgendeiner Weise kritisch oder auch nur oppositionell zu sein, treiben deren Vertreter den antibürgerlichen Disruptions- und Zerstörungsprozess weiter voran, weshalb „linke Kritik“, insbesondere, wenn sie von linksradikalen Bohemiens vorgetragen wird, zur contradictio in adiecto geworden ist (6): „Bis in die siebziger Jahre hinein wurde Kultur immer noch als Sphäre begriffen, in der andere, gegenkulturelle oder auch rein ästhetische Werte gelten. Das hat sich vollkommen verändert.
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Folgerichtig ändert sich der Ort gesellschaftlicher Opposition, er wandert ins konservative Lager ein“. (Koppetsch 2019b) Da jedoch auch letzteres dem totalitären Ausgreifen der zum Wahn gewordenen, linksfaschistischen Ideologie kaum standzuhalten vermag, ist „objektiv antifaschistischer Widerstand“ (Thomas Maul) heutzutage allein dem Rechtspopulismus vorbehalten, mit dessen Aufstieg nichts anderes als die „verdrängte Kehrseite“ (Reckwitz 2019: 24) der postindustriellen Gesellschaft erscheint. Politische Richtungsverortungen der klassischen bürgerlichen Epoche, die allerdings schon seit den 1930er Jahren weitgehend obsolet geworden waren, haben im nachbürgerlichen Zeitalter endgültig ihre ursprüngliche Geltung verloren. In den Worten des Fox News-Kommentators und wahren Konservativen Tucker Carlson, die nicht zufällig nach dem ihm wohl unbekannten Horkheimer (7) klingen, der ganz Ähnliches ein halbes Jahrhundert zuvor festgehalten hatte: „Links und rechts sind keine aussagekräftigen Kategorien mehr […]. Der Graben verläuft zwischen denen, die vom Status quo profitieren, und denen, die es nicht tun.“ (Carlson 2018: 18).
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