Die landesweiten offenen Vorwahlen zu den argentinischen Präsidentschaftswahlen im Oktober haben der politische Newcomer Javier Milei und seine im Aufbau befindliche Organisation La Libertad Avanza (LLA) für sich entschieden: Mit rund 30 % der abgegebenen Stimmen deklassierte Milei sowohl die peronistischen Noch-Machthaber als auch deren bürgerliche Opposition.
Die allgemein als Testlauf für die Wahlen am 22. Oktober angesehenen PASO, die obligatorischen Vorwahlen, die über die Kandidaten aller Parteien, Listen und Listenverbindungen entscheiden, haben in Argentinien ein landesweites politisches Erdbeben ausgelöst. Nach Auszählung von 97 % aller Stimmen hat der anarcho-kapitalistische, libertäre Herausforderer Javier Milei (LLA) den Urnengang für sich entschieden (die Wahlbeteiligung betrug 66 %):
- 30,08 % für Javier Milei
- 21,36 % für Sergio Massa (Peronismus)
- 16,98 % für Patricia Bullrich (rechter Flügel PRO)
- 11,29 % für Rodriguez Larreta (linker Flügel PRO)
- 5,86 % für Juan Grabois (extreme Linke des Peronismus)
Für den Peronismus ist dies das schlechteste Wahlergebnis aller Zeiten: Die Partei verlor in 19 von 23 Provinzen sowie in der Bundeshauptstadt Buenos Aires. Auf Basis des Vorwahl-Ergebnisses würde die Partei der Amtsinhaber nicht in die entscheidende Stichwahl-Runde um die Präsidentschaft gelangen.
Das wird allgemein als die Quittung für das absolute Desaster der linken und im weitesten Sinne sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik der „Union por la Patria“ und ihres Spitzenkandidaten, Wirtschaftsminister Sergio Massa gewertet:
- Die Inflation liegt bei 130 % pro Jahr (die dritthöchste der Welt)
- Die Armutsquote beträgt 48 %, bei Kindern 64 %
- Das Durchschnittseinkommen ist von monatlich 900 Euro (2016) auf rund 400 Euro (2020) gesunken
- Die staatliche Mindestrente beträgt nur noch knapp 100 Euro p.m.
- Rund die Hälfte der Bevölkerung arbeitet in nicht formalisierten Beschäftigungsverhältnissen (vulgo: schwarz)
- Um die öffentliche Sicherheit ist es schlecht bestellt: Mord auf offener Straße ist auch für Bagatellbeträge an der Tagesordnung
- Der Staat ist bis über die Ohren verschuldet, der Nationalbank fehlen jegliche Reserven
- Es mangelt an Liquidität zum Bestreiten der nötigen Importe
Vor diesem Hintergrund wirkt der Systemfilz, die Korruption von Staat, systemrelevanten „sozialen Organisationen“, Gewerkschaften und Peronismus, besonders skandalös: Die Vizepräsidentin Cristina Kirchner wurde bereits Ende letzten Jahres wegen der Veruntreuung einer knappen Milliarde Dollar zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Sie wird diese Haftstrafe antreten müssen, wenn sie sich im Oktober nicht erneut in die parlamentarische Immunität retten kann.
Nach 20 Jahren intensiver sozialkleptokratischer „Umverteilung“ ist aus einer der ehemals reichsten Nationen der Erde eins der ärmsten Länder der Welt geworden. Die linkspolitischen Maßnahmen der peronistischen Machthaber haben die Armutsquote keineswegs verringert – im Gegenteil: Aus 36 % Menschen in Armut wurden 48 %. Fast zwei Drittel aller Kinder leben inzwischen unterhalb des Existenzminimums, rund 15 % fehlt zum Überleben das Nötigste. Wenn solche Zustände eine „linke“ Antwort auf die sozialen Herausforderungen der Gegenwart sein sollen, muss man wohl noch mal überlegen, was die Frage war.
Das großzügige Gelddrucken während der Corona-Pandemie führte zu einem massiven Wertverlust der ohnehin wenig begehrten Nationalwährung, dem Peso, sowie zu einer eklatanten Inflation von heute 130 % p.a. Darunter leiden die einkommensschwachen Bevölkerungsschichten selbstverständlich am stärksten.
Das Durchschnitteinkommen beträgt aktuell rund 400 Euro monatlich, wobei rund fünf Millionen privatwirtschaftlich Beschäftigte das Sozialprodukt für 45 Millionen Einwohner erarbeiten müssen. Auch in Argentinien arbeitet man bis Mitte Juli ausschließlich für einen ausufernden und ineffizienten Staat mit chronisch defizitären Staatsbetrieben. Große Teile des Sozialprodukts gehen für politische Gefälligkeitsleistungen (vulgo: Stimmenkauf) bei Gewerkschaften und den War-Lords der staatlichen Elendsverwaltung, den sogenannten „sozialen Organisationen“ in den Slums, drauf.
Das Programm des politischen Newcomers Javier Milei – eines profilierten Wirtschaftstheoretikers in der Tradition der Österreichischen Schule (von Mises, von Hayek) an der auch international recht renommierten Universität Torcuato Di Tella – besteht darin, den offensichtlichen sozialen und ökonomischen Niedergang der zweitgrößten Volkswirtschaft von Südamerika durch radikale Liberalisierungsmaßnahmen umzukehren: Wichtigste Forderung ist die Dollarisierung der Volkswirtschaft zur Bekämpfung der Inflation sowie die Sanierung des absolut maroden Staatshaushaltes durch eine extreme Verkleinerung des Staates; zwei Positionen, die so oder so ähnlich bereits unter Carlos Menem in den 1990er Jahren ausprobiert wurden und zumindest für ein paar Jahre einen gewissen sozialökonomischen Erfolg bewirkten.
Inwieweit sich Mileis Positionen gegen den erbitterten argentinischen Syndikalismus und den teilweise gewalttätigen Widerstand der War-Lords der „sozialen Organisationen“ aus der Piquetero-Bewegung (und deren gewaltsamen Straßenblockaden) realisieren lassen, wäre abzuwarten. Zudem wäre – vor dem Hintergrund des vorliegenden Ergebnisses – jede zukünftige Regierung in beiden Kammern des Kongresses auf eine Koalition mit einer weiteren politischen Kraft angewiesen.
Das vergleichsweise schwache Abschneiden der bürgerlich-liberalen bis liberal-konservativen Herausforderer von „Juntos por el Cambio“ (JxC), der politischen Organisation von Ex-Präsident Mauricio Macri, dem politischen Patron insbesondere von Patricia Bullrich, parteiintern auch als „la piba“ (= das Mädchen) bekannt, überraschte viele Beobachter.
Offensichtlich ist es „JxC“ nicht gelungen, politische Inhalte ins Zentrum der Debatte zu rücken. Was nicht verwundert, zumal die Partei die meiste Zeit mit sich selbst beschäftigt schien: Personalien und öffentliches Waschen von schmutziger Wäsche dominierten die Auseinandersetzung zwischen den Parteisoldaten von Bullrich und Larreta, dem Bürgermeister von Buenos Aires, der vom anderen Flügel seiner Partei beizeiten als „Bürgersteig-Inspektor“ verspottet wurde.
In der Provinz Buenos Aires (politisch gesehen das NRW von Argentinien) konnte der peronistische Gouverneur Axel Kiciloff seine Position als Slum-Lord in den Elendsvierteln am südlichen Stadtrand zunächst verteidigen, wenngleich mit 31 % auf einem historisch niedrigen Niveau. Sollten die beiden Herausforderer – JxC und LLA – sich in der PBA auf eine Listenverbindung mit gemeinsamer Spitzenkandidatin einigen, könnte es ihnen gelingen, hier bis zu 57 % der Stimmen auf sich zu vereinigen.
Die Tage von Noch-Präsident Fernández – der bereits im Vorwege von jeder Kandidatur zurücktrat, genau wie Vizepräsidentin Kirchner – scheinen angesichts des vorliegenden Ergebnisses einmal mehr gezählt. Von der scheidenden Regierung werden kaum noch politische Impulse erwartet, während ihre Pressesprecherin bereits zu „Notwehr“ gegen die politischen Nachfolger aufrief.
Die politischen Perspektiven der Amtsinhaber sind restlos erodiert und tendieren gegen Null, was die schwierigen Abstimmungen zwischen Noch-Wirtschaftsminister Massa und dem Internationalen Währungsfonds (IMF) erschweren und die katastrophale sozioökonomische Position des Landes zumindest kurzfristig weiter beschädigen wird.
Ramiro Fulano / https://haolam.de/artikel/Welt/56832/Politische-Zeitenwende-in-Argentinien-Javier-Milei-gewinnt-Vorwahlen.html