Das Trauma: Die Schlüsselepisode in Finn Jobs Roman Hinterher aus dem Jahr 2022 ereignetsich auf Sophias drogengeschwängerter Geburtstagsparty in Peters heruntergekommener Wohnung in Neukölln. Eine zu Besuch weilende Schwedin erklärt auf Englisch: „the great thing about Berlin is that you can be whatever you want.“ (1) Der namenlose Ich-Erzähler und sein schwuler Liebhaber, der Israeli Chaim, melden sich freiwillig, um mehr Alkohol für die Gruppe zu besorgen. Als die beiden in eine Seitenstraße der Sonnenallee treten und in der Öffentlichkeit stehen, gesteht der Erzähler nachträglich: Ich war „so glücklich und selbstvergesssen, ja, ich war so dumm, dass ich Chaim einen flüchtigen Kuss auf die Wange gab.“ (S. 99)
Auf das Glück folgt sofort die Strafe. Junge Männer aus der Nachbarschaft rufen dem Paar homophobe Beleidigungen zu: „Schwuchteln! Yallah, da sind Homos! […] Allahu Akbar“ (S. 99). Eine Bande verfolgt das Paar, doch glücklicherweise sind die beiden schnell genug, um in die Sicherheit der Wohnung zurückzukehren. Doch statt Mitgefühl und Solidarität von ihren Freunden zu erfahren, werden sie mit Verurteilungen konfrontiert. Dieselbe Schwedin, die gerade über Berlins Offenheit geschwärmt hatte, wo jeder sein kann, was er will, feuerte die Eröffnungssalve ab: „Don’t you think it was a little bit insensitive to kiss each other? I mean this is Neukölln – their home. You probably hurt their feelings“ (S. 102). Diese milde Schelte eskaliert schnell, bis ihre Freunde sie schließlich als „Nazis“ (S. 103), „Fascho“ (S. 18) und Rassisten (S. 147) denunzieren. Nazis sind offenbar Menschen, die sich in der Öffentlichkeit küssen.
Die Szene inszeniert eine Konstellation von Themen, die das heutige Deutschland kennzeichnen. Erstens zeugen die Anprangerungen, denen das Paar nach seiner Rückkehr ausgesetzt war, von der Langlebigkeit eines automatisierten antifaschistischen Diskurses – Peter, der Gastgeber und Drogenhändler, trägt ein „Antifa“-T-Shirt (S. 98). Zum Teil ist dies eine Konstante in der deutschen Kultur seit 1945, aber als Reaktion auf den Aufstieg der neuen Rechten in Form der Alternative für Deutschland ist es jetzt akut geworden. Natürlich ist die inflationäre Verwendung des „Faschisten“-Epithetons auch in den USA bekannt: Jeder Politiker, den wir nicht mögen, muss ein „Faschist“ sein. In Deutschland aber ist diese rhetorische Inflation besonders ausgeprägt.
Zweitens behauptet die politische Linke, die einzig natürliche Heimat des Antifaschismus zu sein und marginalisiert damit konservative oder katholische antifaschistische Traditionen, schiebt Stauffenberg, Adenauer oder die Scholls beiseite und verheimlicht gleichzeitig die historische Zusammenarbeit zwischen Kommunisten und Nazis. (2) Doch diese selbsternannte antifaschistische Linke hat dank einer faktischen Allianz mit dem Islamismus eine eigene Transformation durchgemacht. Während traditionelle Arbeiterschichten die Linke mit ihrem programmatischen Sozialismus entweder verließen oder aufgrund der globalen Umstrukturierung der Arbeiterschaft einfach an Zahl verloren, haben manche linke Aktivisten und Parteien begonnen, Unterstützung und Stimmen unter muslimischen Einwanderern zu suchen, trotz ihrer entschieden nicht-progressiven kulturellen Orientierungen: Patriarchat, Homophobie und Antisemitismus. Dies sind die Strategien von Jeremy Corbyn in Großbritannien und Jean-Luc Mélenchon in Frankreich.
Drittens hat Identitätspolitik – brillant parodiert von Job mit dem heuchlerischen „you can be whatever you want“ der schwedischen Besucherin – das Klassenbewusstsein ersetzt. Programme für sozialen Wandel sind der Identitätspflege gewichen. Natürlich scheint der postmoderne Narzissmus des „Whatever you want to be“ mit der Hinwendung zum Islamismus unvereinbar zu sein, denn man kann inNeukölln, so jedenfalls der Roman, nicht öffentlich schwul sein. Doch die Ausrichtung der Identitätspolitik nach innenund der Antiimperialismus der islamistischen Wende haben einen gemeinsamen Nenner: Sie dienen beide als Mittel, um Fragen der Klasse, der Arbeit und des sozialen Konflikts zu vermeiden.
Im Folgenden möchte ich über diesen besonderen kulturpolitischen Moment nachdenken, wie er in Hinterher als Rahmen für eine Lektüre des Romans im Hinblick auf die Transformationen des antifaschistischen Diskurses und die Komplexität von Identität und Integration im multikulturellen Deutschland festgehalten wird. Ich beginne jedoch mit einer Untersuchung der aktuellen Reaktion der intellektuellen deutschen Öffentlichkeit auf die Herausforderung des Rechtspopulismus.
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