Nach dem verheerenden Brand von Notre Dame am 15. April 2019 ist schwer zu sagen, wer den schwereren Dachschaden hat: Die Pariser Kathedrale oder die Verächter von Kunst, Christentum und Republikanismus, die nach der Katastrophe ein Zeugnis über eine zivilisationsgeschichtliche Amnesie ablegten, die insbesondere in Deutschland epidemisch zu sein scheint. Der innere Zusammenhang von Christentum und Aufklärung, Mittelalter und Moderne wird hierzulande im selben Maß verkannt, wie er unbewusst bei der Mobilisierung von Ressentiments gegen die dekadente Kirche oder vernünftelnde Theologie zutage tritt. Von der gleichen Amnesie scheinen aber auch so manche Freunde des Abendlands betroffen zu sein, abzulesen etwa am leeren Pathos, mit dem auf der Achse des Guten der Brand zum „Symbol der Vergänglichkeit alles menschlichen Mühens“ erklärt wurde, der aber irgendwie doch Anlass zur „Hoffnung auf einen bald folgenden Neuanfang“ sei. (achgut.com, 16.4.2019)
Weil die Zeichen nicht gerade auf Hoffnung stehen, bleibt bis zum abzuwartenden Neuanfang genügend Zeit, sich auf den Anfang zu besinnen: den von Aufklärung und Moderne, der keineswegs erst auf Renaissance und Humanismus zu datieren ist, sondern auf die mittelalterliche Gotik und Scholastik. Mit Notre Dame hat die wohl wichtigste der hochgotischen Kathedralen Frankreichs gebrannt. Die himmelstürmenden Türme dieser Bauten, ihre voluminösen Hauptschiffe und ihre überbordende Ornamentik stehen nicht nur für die technische Meisterschaft der Bauhütten und das unter dem kapetingischen Königtum aufblühende Städtewesen. Vor allem gelangte in der Gotik die christliche Theologie, innerhalb derer sich zu jener Zeit der Übergang zum modernen Denken vollzog, zu ihrem prägnantesten architektonischen Ausdruck.
Dekonstruktion statt Rekonstruktion?
Eine Ahnung vom inneren Zusammenhang zwischen Christentum und Vernunft, zwischen Kirche und Republik drückte sich auch in den intuitiven ersten Reaktionen auf den Brand von Notre Dame aus: Das Herz Frankreichs stand in Flammen. Betroffenheit und Anteilnahme waren bei weitem nicht nur auf die gute Erinnerung an den Disney-Film oder Paris-Urlaube zurückzuführen. Hinzu trat die böse Ahnung, ein islamistischer Terroranschlag habe die Kirche zerstört – eine vor dem Hintergrund der zahllosen Schändungen christlicher Gotteshäuser, die in Form von Brandstiftungen und Verwüstungen in Frankreich mittlerweile gang und gäbe sind, nicht unbegründete Vermutung. (5) Nachdem Fahrlässigkeit als Brandursache feststand, folgte der unvermeidliche Backlash: Unter Ausnutzung des glücklichen Umstands, dass bei dem Brand niemand sein Leben verloren hat, und unter Umgehung der Tatsache, dass ein Feuerwehrmann schwer verletzt wurde, konnte man abgeklärt abwiegeln, weil schließlich „nur eine Kirche“ Schaden genommen habe. „Der Brand in Notre-Dame löst nur so viel Betroffenheit und Trauer aus, weil wir hier eurozentristisch auf die Welt blicken“, erklärte eine ihre „Identität als weiße Europäerin“ kritisch hinterfragende Autorin auf bento (17.4.2019). Die angekündigten Milliardenspenden für den Wiederaufbau wurden als Ausdruck menschenfeindlicher Gesinnung verhöhnt, weil mit demselben Geld schließlich auch Menschen in Not geholfen werden könnte – eine Rechnung, die bei Spenden an WWF oder Greenpeace bezeichnenderweise selten aufgemacht wird. Inzwischen weiß man, dass der größte Teil der zugesagten Spenden ohnehin niemals eingetroffen ist, weil die Gönner von Macrons Drohung, er werde Notre Dame „noch schöner als zuvor“ wiederaufbauen, verschreckt worden sind. Premierminister Édouard Philippe hatte nur zwei Tage nach dem Unglück einen Architektenwettbewerb ausgerufen, um eine „zeitgemäße“ Lösung für den Neubau des ausgebrannten Dachstuhls und des eingestürzten Vierungsturms zu finden. Macron verlautbarte, eine „zeitgenössische architektonische Geste“ ins Auge fassen zu wollen. Damit hatte die französische Staatsspitze, zu einem Zeitpunkt, als die Rekonstruktion Notre Dames eigentlich außer Frage stand, das Bauwerk zur öffentlichen Dekonstruktion freigegeben.
Die abenteuerlichsten Entwürfe ließen natürlich nicht lange auf sich warten, wobei die Empfehlung des britischen Architekturhistorikers Tom Wilkinson, den Vierungsturm durch ein Minarett zu ersetzen (domusweb.it, 17.4.2019), nur die am offensten christenfeindliche war. Das renommierte Londoner Architektenbüro Foster + Partners begeisterte mit einem Entwurf, der aufgrund seiner Ähnlichkeit zur Berliner Reichstagskuppel eigentlich als Selbstplagiat hätte abgekanzelt werden müssen: Dach und Vierungsturm sollen aus Glas und Edelstahl neu gestaltet werden und eine Aussichtsplattform erhalten. Ein transparentes Kirchendach, das den Blick auf den profanenHimmel freigibt und das bloß natürliche Licht eintreten lässt, wäre ein Angriff auf die gotische Ästhetik, wie ihn sich Eugène Viollet-le-Duc, der Notre Dame-Restaurateur des 19. Jahrhunderts, niemals erlaubt hätte. Gerade dessen Veränderungen an Notre Dame (zu denen unter anderem der neue Vierungsturm zählte) wurden aber als Rechtfertigung dafür herangezogen, das Bauwerk zu verschandeln: Wo kein „Original“ war, sei Originaltreue obsolet.
Ökologischer Götzendienst
In der Begeisterung für die postmodernen Dekonstruktionsfantasien drückt sich stolze Ignoranz gegenüber der alten christlichen Idee aus. Mittelalterliche Theologie hat, aller in die Innerlichkeit gewendeter Eschatologie zum Trotz, eine Sehnsucht ausgedrückt, die heute kaum ein Mensch mehr spürt: Selbst noch in der Lehre von der objektiven Vernunft einer transzendenten Gottheit war wenigstens negativ die Unvernünftigkeit des Diesseits ausgedrückt, die Erlösungsbedürftigkeit einer leidvollen Welt. Der frühscholastische nominalistische Impuls, der Vernunft weit ins Subjekt verlegte, bereitete der Moderne im Sinne der produktiven Weltverwandlung durch den Menschen den Weg. So wie die Einrichtung einer vernünftigen Welt aber misslang, verschärfte sich der Subjektivismus zum Verhängnis: Wahrheit, Sinn und Versöhnung erschienen dem modernen Bewusstsein bloß noch als anachronistische Worthülsen. Die Leerstelle füllten allerlei zweckdienliche Ideologien wie Okkultismus, Astrologie oder völkisches Heidentum. Nun in der Postmoderne hat das nominalistische Bewusstsein seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Aufklärung, Moderne, Fortschritt und Befreiung (von den theologischen Begriffen ganz zu schweigen) sind bloß noch „Narrationen“, die ihre Wirkungskraft eingebüßt haben; alle menschlichen Verhältnisse erscheinen als „Diskurse“, die willkürlich qua Sprachhandlung scheinbar magisch zu beeinflussen seien, tatsächlich aber eine den Einzelnen und sein Wort missachtende Allmacht entfalten, von der keine menschliche Betätigung mehr befreien könne. Sobald die gesamte zweite Natur nur noch als diskursives Dickicht in den Gesichtskreis tritt, winkt verheißungsvoll die erste Natur als Garant einer neuen objektiven Seinsordnung. Die „Umwelt“ genannte Natur erscheint als sprachlose, außerdiskursive Gewalt. (6) Daher die bereitwillige Unterwerfung postmoderner Ideologen unter die ökologistische Neo-Religion, der noch die mystizistischste christliche Theologie voraushat, auf ein Transzendentes zu verweisen, wohingegen der Ökologismus nur die totale Immanenz eines seinen Platz in der Natur demütig und opferbereit annehmenden Menschen im Programm hat.
Es nimmt also nicht wunder, dass die von der Netzöffentlichkeit am heftigsten akklamierten Designvorschläge die Verwandlung der Kirche in eine Kultstätte des ökologischen Götzendienstes vorsahen. Jean-Michel Wilmotte empfahl beispielsweise, die Turmspitze Notre Dames aus Kohlenstoff neu zu gestalten, „um ein ökologisches Zeichen des 21. Jahrhunderts zu setzen“ (Derstandard.de, 17.6.2019). Den größten Hit aber hat das renommierte Architektenstudio NAB gelandet: Notre Dame solle einen verglasten Dachgarten mit Gewächshaus erhalten und der Vierungsturm mit integrierten Bienenstöcken als Imkereibetrieb erneuert werden (studionab.fr/notredame). Die Verpflanzung profaner Natur in den sakralen Raum ist geradezu eine Persiflage der gotischen Kathedrale, in deren Innerem der „Wald“ aus Pfeilern eher einen ideal proportionierten Paradiesgarten darstellt als wildwuchernde bloße Natur. Auch sind die Tierfiguren, selbst als individuell gestaltete, in eine Ordnung eingelassen – die der göttlichen Alleinheit oder der menschlichen Vernunft und eben nicht in die bewusstlose Ordnung der Bienenwaben, um die die Tiere chaotisch schwirren.
Macron und sein Premierminister Philippe haben nicht nur solchem Irrsinn Vorschub geleistet, sondern mit ihrem Umbauvorhaben ohne jede Not eine gesellschaftliche Polarisierung entlang der Frage des Wiederaufbaus provoziert. Immerhin über die Hälfte der Franzosen hat sich in Umfragen dafür ausgesprochen, Notre Dame ihr altes Erscheinungsbild wiederzugeben. Der Vorsitzende der französischen Grünen warnte angesichts dessen zwar vor „rückschrittlicher Nostalgie“ (Abendblatt.de, 27.6.2019), der Versuch, die Kampagne für die Restaurierung als reaktionär und traditionalistisch abzukanzeln, blamierte sich jedoch allein an der Tatsache, dass auch Raphaël Glucksmann oder Anne Hidalgo, die sozialistische Bürgermeisterin von Paris, sich gegen eine „zeitgenössische architektonische Geste“ ausgesprochen haben.
Erst am Widerstand des französischen Senats ist Macron schließlich gescheitert: Dieser hatte seinen Gesetzesentwurf, wonach Notre Dame binnen fünf Jahren unter Umgehung der Denkmalschutzbestimmungen „wiederaufgebaut“ werden soll, die Passage hinzugefügt, dass die Kathedrale dem „letzten bekannten visuellen Zustand“ gemäß restauriert werden müsse. „Rekonstruktionsarchitektur“, hat Deutschlands inzwischen beliebtester Architekturprofessor Stephan Trüby bereits vor einem Jahr erklärt, sei ein „Schlüsselmedium der autoritären, völkischen und geschichtsrevisionistischen Rechten“ (Taz.de, 18.8.2018). Davon unbeeindruckt hat sich die Mehrheit der Franzosen, bei weitem nicht nur Konservative und Gläubige, dafür entschieden, die Verbindung zu einer Vergangenheit, deren Sehnsüchte noch nicht erfüllt sind, nicht zu kappen.
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