Man stelle sich vor: Die rumänische Putzfrau arbeitet ein Leben lang in ihrer Heimat und bekommt eine niedrige Rente, mit der sie kaum über die Runden kommt. Dann fällt der Rumänin ein, dass sie eine Tochter in Österreich hat, die dort arbeitet und auch bereits die österreichische Staatsbürgerschaft erworben hat.
Die Rumänin denkt sich: „Ich ziehe nach Österreich zu meiner Liebsten und lass mich von ihr durchfüttern. Gleichzeitig beantrage ich, obwohl ich keinen einzigen Tag in das österreichische Sozialsystem eingezahlt habe, die Mindestpension dieses Staates, die mir zusteht.“
Sozialtourismus derzeit unmöglich
Aufmerksame unzensuriert-Leser wissen freilich, dass Österreich bei solch einer Sachlage nicht verpflichtet wäre, die als Ausgleichszulage bekannte Mindestpension zu bezahlen. Zuletzt wurde im Mai letzten Jahres über einen rumänischen Sozialtouristen berichtet, der diese Leistung beantragt hatte, nachdem er nach Österreich gezogen war, wo er sich von seiner Schwester versorgen ließ. Als Vermögen legte er ein Sparbuch mit einem Guthaben in der Höhe von 5.000 Euro vor, bei dem es sich aber – wie sich erst im Nachhinein herausstellte – um Geld handelte, das die Schwester in Form eines Kredits aufgenommen hatte.
Ähnlich die Entscheidung über eine Rumänin, die knapp umgerechnet 80 Euro von ihrer Heimat bezog und nach Österreich zu ihrem Stiefsohn zog. Auch sie forderte die Ausgleichszulage. Vor Gericht bekam die Frau sogar in zwei Instanzen recht. Glück für die Pensionsversicherungsanstalt, dass das Höchstgericht das Begehren der Klägerin ablehnte.
EuGH untersagt Sozialtourismus
Denn der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied in mehreren Rechtsachen, dass kein Aufnahmestaat dazu verpflichtet sei, einem Unionsbürger unangemessen Sozialleistungen zu gewähren. So wollte etwa in C-333/13 die rumänischen Sozialtouristen Elisabeta Dano, die nach Deutschland gezogen war, aber kein Interesse an Arbeit zeigte, Sozialhilfe.
Fall in Irland
Alle genannten Rumänen blieben erfolglos. ABER. Wenn der EuGH den Schlussanträgen der Generalanwältin Tamara Ćapeta in der Rechtsache C‑488/21 folgen sollte, dann wird es für Österreich düster und teuer werden. In diesem Fall geht es – welch ein Zufall – wieder um eine Rumänin. Allerdings ist Irland der beklagte Staat. Die Rumänin G.V. ist Mutter ihrer Tochter A.C., die in Irland wohnt, dort arbeitet und auch bereits die irische Staatsangehörigkeit erworben hat.
G.V. ist zuletzt 2017 zu ihrer Tochter nach Irland gezogen, wo sie sich von ihr auch noch quasi durchfüttern lässt. G.V. ist von A.C. vollkommen abhängig. G.V. hielt sich mehrmals, unter anderem zwischen 2009 und 2011, in Irland auf und kehrte später nach Rumänien zurück. In der Zeit von 2011 bis 2016 pendelte sie zwischen Irland, Rumänien und Spanien, wo ihre andere Tochter wohnt. Sie lebt seit 15 Jahren von ihrem Mann getrennt und ist seitdem finanziell von A.C. abhängig, die ihr regelmäßig Geld geschickt hat.
Streit um Invaliditätsbeihilfe
2017 traten bei G.V. degenerative Veränderungen ihrer Arthritis auf. Am 28. September 2017 stellte G.V. in Irland einen Antrag auf Invaliditätsbeihilfe. Bei dieser Leistung handelt es sich um eine „besondere beitragsunabhängige Geldleistung“ im Sinne des EU-Rechts. Es handelt sich um eine Sozialhilfeleistung, die aus dem allgemeinen Haushalt gezahlt wird, ohne dass der Betreffende Sozialversicherungsbeiträge entrichten müsste. Die österreichische Ausgleichszulage ist auch eine besondere beitragsunabhängige Geldleistung.
Verlust des Aufenthaltsrechts
Die irischen Gerichte lehnten die Beihilfe für G.V. ab. Es wurde begründet, dass G.V. das Aufenthaltsrecht verlieren würde, falls sie die Leistung erhalte, da sie nicht mehr von ihrer Tochter abhängig sei. Andererseits hieß es, dass G.V. die Beihilfe nicht zustehen könne, da sie gemäß der EU-Freizügigkeitsrichtlinie eine Sozialleistung unangemessen in Anspruch nehmen würde, womit sie ausgewiesen werden könnte. Fraglich ist aber auch, ob diese Richtlinie überhaupt in diesem Fall angewendet werden kann, da sie nicht mehr für Unionsbürger gilt, die bereits die Staatsbürgerschaft des Aufnahmestaats erhalten haben, was bei A.C. (der Tochter von G.V.) der Fall ist.
Problem im Unionsrecht
Die EuGH-Anwältin zeigt in ihren Schlussanträgen Problemstellungen auf, über die unzensuriert bereits berichtet hat und die aufzeigen, wie dumm die EU-Gesetze sind, konkret die Freizügigkeitsrichtlinie und die Arbeitnehmerverordnung. Rechtlich darf ein Unionsbürger ausgewiesen werden, wenn er Sozialhilfeleistungen des Aufnahmestaats unangemessen in Anspruch nimmt. Andererseits ist es zulässig, dass ein Unionsbürger sich von seinen Familienangehörigen finanziell versorgen lassen darf, wenn er zu ihnen in den jeweiligen Staat zieht.
Dazu meint die Anwältin:
Wie von der Kommission aufgezeigt, würde ein solcher Schluss zu einer unzulässigen Endlosschleife führen, nämlich zu folgendem Szenario: Sobald einem Familienangehörigen eine Sozialleistung gewährt wird, erlischt das Aufenthaltsrecht, was wiederum die Möglichkeit ausschließt, eine Sozialleistung zu erhalten. Ohne diese Sozialleistung wird der Familienangehörige aber wieder von dem mobilen Unionsbürger abhängig, was bedeutet, dass ihm ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zusteht und er eine Voraussetzung für den Antrag auf die Sozialleistung erfüllt. Und so weiter, immer im Kreis.
Allerdings irrt die Anwältin. Wenn ein Unionsbürger sich von seinem Kind finanziell versorgen lässt, dann darf er zwar im Staat des Kindes bleiben. Er erfüllt aber keineswegs deswegen einen Anspruch auf Sozialleistungen, sondern erst nach fünf Jahren. Und dennoch stellt sich die Frage, wann werden Sozialhilfeleistungen unangemessen bezogen? In der Rechtsache C‑140/12 musste die österreichische Pensionsversicherungsanstalt Herrn Peter Brey eine Ausgleichszulage bezahlen. Herr Brey bezog in der Bundesrepublik Deutschland eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in Höhe von 862,74 Euro brutto monatlich sowie ein Pflegegeld in Höhe von 225 Euro monatlich. Er zog nach Österreich. Der Bezug der Ausgleichszulage sei in seinem Fall nicht unangemessen gewesen.
Was bedeutet Abhängigkeit?
Die Generalanwältin greift auch eine andere Frage auf. Sie will die Abhängigkeit im Sinne des Unionsrechts nicht nur in finanzieller Natur sehen. Die Abhängigkeit könne auch emotionaler und physischer Natur sein.
Sie argumentiert:
Meines Erachtens sprechen mehrere Gründe für ein anderes Ergebnis, nämlich dass es sich bei der Abhängigkeit im Sinne der Unionsbürgerrichtlinie um einen weiter gefassten Begriff handelt, der auch emotionale und physische Bedürfnisse einschließt. Erstens ist die materielle oder finanzielle Abhängigkeit nach meiner Meinung der am wenigsten gewichtige Grund dafür, einem mobilen EU-Arbeitnehmer zu gestatten, dass er seine Eltern in den Aufnahmestaat, in dem er lebt und arbeitet, nachholt. Ginge es nur um eine finanzielle Unterstützung, könnte diese auch den in ihren Herkunftsländern verbleibenden Eltern gewährt werden. Sie brauchen nicht in den Aufnahmestaat zu kommen, um dort eine Unterkunft oder finanzielle Unterstützung für Nahrung oder Kleidung zu erhalten. Es könnte sogar billiger sein, diese Unterstützung im Herkunftsland der Eltern zu gewähren, wo die Lebenshaltungskosten möglicherweise niedriger sind als im Aufnahmestaat. Hingegen ist die emotionale und physische Unterstützung eines Elternteils zumeist unmöglich, wenn dieser nicht in der Nähe seiner Kinder lebt.
Infolgedessen schlage ich dem Gerichtshof vor, den Begriff der Abhängigkeit weit zu fassen, nämlich so, dass diese immer dann gegeben ist, wenn eine Person der materiellen, finanziellen, physischen oder emotionalen Unterstützung durch einen Familienangehörigen bedarf. Daher könnte GV, auch wenn sie nicht mehr auf die finanzielle Unterstützung ihrer Tochter angewiesen wäre, immer noch die Voraussetzung der Abhängigkeit erfüllen, auf der das abgeleitete Aufenthaltsrecht beruht.
Familiäre Bindung ein Grundrecht
Die familiäre Bindung sei auch ein Recht, das in der EU-Grundrechtcharta verankert sei. Würde der EuGH den Worten der Generalanwältin folgen, dann bedeutet das, dass ein Ausländer zu seinem Kind nach Österreich ziehen darf und ein Anspruch auf die Ausgleichszulage zulässig ist. Dies unabhängig wie hoch oder niedrig die Rente des Ausländers ist, unabhängig, ob Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch genommen werden, und unabhängig, ob der Ausländer finanziell abhängig von seinem Kind lebt. Es genügt allein der Umstand, dass der Ausländer emotional von seinem erwerbstätigen Kind abhängig ist.
Was sagt der EuGH?
Sämtliche EU-Texte sind derart schlecht formuliert, durch Sprachübersetzungen nicht einheitlich und können anders interpretiert werden, als es der Gesetzgeber gemeint haben sollte. Man darf gespannt sein, ob die EuGH-Richter den Ausführungen der Generalanwältin folgen werden. Falls ja, ist Feuer am Dach. In wenigen Monaten gibt es das Urteil. Unzensuriert wird berichten.